Warum kontinuierliche und mobile Vitalparametermessung von Schwerbrandverletzten und während Krankentransporten die Zukunft sind

In Australien unterscheidet sich die Gesundheitsversorgung in mancherlei Hinsicht von derjenigen in Deutschland. Besonders auffällig ist die ausgeprägte Entwicklung der Notfallmedizin, die dort als eigenständige Facharztdisziplin etabliert ist. Notaufnahmen nehmen eine zentrale Rolle in den Kliniken ein und sind oft die größten Abteilungen, die als Dreh- und Angelpunkt für die Versorgung von Patient*innen fungieren. Im Anschluss an die Abklärung und Erstellung eines Behandlungsplans werden viele Patient*innen nach Hause entlassen, wo sie ambulant weiterbetreut werden. Diese Strukturen spiegeln sich auch in der Telemedizin und ambulanten Versorgung wider, die in Australien im Vergleich zu Deutschland deutlich weiterentwickelt sind.
Vor diesem Hintergrund haben wir mit Marc Schnekenburger, Facharzt für Notfallmedizin und Oberarzt im Alfred Hospital in Melbourne, über die Arbeit als Notfallmediziner in Australien, die damit verbundenen Herausforderungen sowie die geplanten Anwendungen des cosinuss° Im-Ohr Sensors in der Notfall- und Retrieval Medizin gesprochen.

Dr. Marc Schnekenburger

Über den Interviewpartner:

Marc Schnekenburger gelangte 1994 durch seinen Zivildienst zum Rettungsdienst. Nach seinem Medizinstudium in München und mehreren klinischen Jahren zog er 2008 – zunächst für zwei Jahre – nach Melbourne in Australien, um im Alfred Hospital zu arbeiten. Heute lebt er mit seiner Familie immer noch dort und ist als Facharzt für Notfallmedizin und Oberarzt mit Schwerpunkt Traumatologie und Schwerbrandverletzungen tätig.

Herr Schnekenburger, wie sind Sie zur Notfallmedizin gekommen?

Ich bin durch einen Zufall zur Notfallmedizin gekommen, als ich meinen Zivildienst im Rettungsdienst absolviert habe. Dort habe ich die Faszination “Mensch” kennengelernt. Das beinhaltet, die Physiologie, die Pathophysiologie, all die komplexen Vorgänge des Menschen kennenzulernen. Daneben war zum einen der Aspekt, mit Menschen zu arbeiten, häufig in schwierigen Situationen, überzeugend. Zum anderen arbeite ich gerne in einem Team zusammen. Das Rettungswesen ist ein schnelllebiges Feld – das hat mich gepackt und somit bin ich dort “hängen geblieben”. Ich habe dann meine Berufsausbildung im Rettungsdienst gemacht. Danach bin ich nach München gegangen, um Medizin zu studieren und war währenddessen weiterhin im Rettungsdienst tätig. Ich habe dort u.a. im Klinikum Schwabing in der Notaufnahme gearbeitet. Mein Fokus lag dabei immer auf der Akutmedizin: von der Rettung in die Notaufnahme.

Warum sind Sie dann in Australien gelandet und dort geblieben?

Um die Frage zu beantworten, muss ich zunächst erklären, dass Deutschland aus meiner Sicht ein sehr gutes Rettungssystem bzw. eine sehr gute Notfallmedizin in der präklinischen Versorgung hat. Mich hat aber interessiert, wie es danach weitergeht. Ich habe in der Notaufnahme gearbeitet und habe dort für die Notfallmedizin wenig Perspektive in Deutschland gesehen, da die Notfallmedizin keine eigenständige Fachrichtung darstellt. Damals war das in anderen Ländern, hauptsächlich in englischsprachigen, jedoch der Fall. Dort ist der/die Notfallmediziner*in gleichberechtigt mit den anderen Fachärzten, wie dem Internisten, dem Chirurgen oder dem Radiologen. Deutschland hat mir damals also nur Teilbereiche geboten und wenig Perspektive. Kombiniert mit meiner Reiselust, habe ich dann ab 2005 nach einem englischsprachigen Land gesucht. England schien mir nicht so attraktiv, die USA landschaftlich zwar schon, aber politisch nicht. 2008 bin ich dann in Australien gelandet. Zunächst sollte es eine zweijährige Erfahrungsreise werden, aber 16 Jahre später sind wir immer noch hier in Melbourne.

Wie können wir uns Ihren Arbeitsalltag als Notfallmediziner in Australien vorstellen und was ist anders als in Deutschland?

Von der Notfallmedizin hat jeder eine Vorstellung, da die meisten sicherlich schon mal im Krankenhaus waren. In Deutschland geht man durch eine Tür rein und wird nach links, rechts, geradeaus geleitet – je nachdem welches Problem man hat bzw. in welche Fachrichtung man passt, bspw. Kinder, Schwangere, Verletzung am Fuß usw. So wird man in Deutschland meistens durch das System geleitet, abhängig von den Beschwerden.

Hier in Australien ist die Notfallmedizin im Krankenhaus der Dreh- und Angelpunkt. Alle Fälle kommen hier rein. Es gibt nur eine Unterscheidung nach Dringlichkeit, d.h. jemand, der humpelt und ein verstauchtes Sprunggelenk hat, hat natürlich nicht dieselbe Dringlichkeit wie jemand, der mit Brustschmerzen mit Verdacht auf einen Herzinfarkt kommt. Wir haben hier in Australien sehr große Notaufnahmen, die das Ziel haben, nicht nur die Leute ins Krankenhaus aufzunehmen, sondern Patient*innen durchzudiagnostizieren, einen Therapieplan zu erstellen und, wenn möglich, in ihr eigenes Umfeld zurückzuschicken mit Versorgung vor Ort. Zusammen mit der Intensivmedizin ist die Notfallmedizin die jüngste Fachdisziplin. Da unsere Notaufnahmen aber wirklich große Dreh- und Angelstellen sind, gibt es eine sehr große Facharztgruppe, die diese Notaufnahmen besetzt und dadurch ist die Notfallmedizin inzwischen die größte Fachdisziplin hier in Australien.

Um einen Einblick in die Notaufnahmen des Alfred Hospital zu bekommen: Wir sind vergleichbar mit einer deutschen Uniklinik. Wir haben allerdings keine Geburtsheilkunde und keine Kinderabteilung. Kommen aber doch mal Fälle aus diesen Bereichen bei uns an, behandeln wir sie ebenfalls. Wir haben 80 Betten in der Notaufnahme. Diese unterteilen sich in “fast track”, dazu gehören kleinere Verletzungen, die bspw. genäht werden müssen, Knochenbrüche, einfache internistische Bilder. Der Zentralbereich für Liegendkranke mit ca. 40 Überwachungsbetten macht den Hauptanteil aus. Wir haben zudem insgesamt neun Schockräume. Wir haben eine “short stay”-Abteilung, in der Patient*innen für 24 Stunden aufgenommen werden können, um eine richtige Einweisung ins Krankenhaus zu verhindern. Zudem haben wir noch sechs psychiatrische Betten.

Prinzipiell wird bei uns im Drei-Schicht-Modell gearbeitet plus Schichten, die zwischendrin liegen. Bspw. sind bei einer Morgenschicht ca. fünf Oberärzt*innen sowie fünf bis zehn Ärzt*innen in Ausbildung anwesend. Hinzu kommt Personal aus anderen Fachdisziplinen: Apotheker*innen, Physiotherapeut*innen und nurse practitioners (Anm.: Erweiterte Krankenpfleger). Wir arbeiten hier mit vielen anderen Abteilungen zusammen. Dazu kommt noch das gesamte Pflegepersonal.

In Australien ist die medizinische Versorgung aufgrund der Größe des Landes sehr zentralisiert. So haben wir im Bundesstaat Victoria mit knapp sieben Millionen Einwohnern nur zwei Krankenhäuser für Schwerverletzte. Das bedeutet, dass alle Fälle, die innerhalb von einer Stunde zu uns gebracht werden können, unter Umständen an drei anderen Krankenhäusern vorbei fahren, weil diese nicht die nötigen Ressourcen für die Versorgung hätten. Für Schwerbrandverletzte sind wir hier in Victoria sogar das einzige Krankenhaus. Diese Patient*innen werden, wenn sie weiter entfernt sind, zunächst vor Ort, erstversorgt und dann je nach Distanz mit dem Krankenwagen, Hubschrauber oder Flugzeug hierher gebracht. Auch andere Dienste wie ECMO (Anm.: Extrakorporale Membranoxygenierung zur externen Unterstützung der Herz- und Lungenfunktion) sind bei uns zentralisiert geregelt.

Wie gut ist das Alfred Hospital in Melbourne im Vergleich zu anderen Krankenhäusern in Australien ausgestattet?

Unser Krankenhaus ist besonders gut ausgestattet. Es gibt bspw. insgesamt nur zwei Traumazentren in Victoria. Wir haben ca. 1.500 Polytraumata pro Jahr – da muss die Ausstattung passen. Hierzu gehören für Schwerverletzte fünf Schockräume. Besser geht es in Australien nicht. Das Alfred Hospital ist das größte Zentrum in Australien. In regionalen Krankenhäusern ist die Versorgung auf einem ähnlichen Niveau wie in Deutschland. Die medizinische Versorgung in Deutschland ist allerdings hochtechnisiert. Das habe ich erst im Ausland gemerkt. Das gleiche gilt auch für die Pharmazie. Nicht alles, was in Deutschland verfügbar ist, ist hier verfügbar. Die Regulierungs- und Zulassungszeiträume sind hier generell etwas länger.

Wie weit ist die Telemedizin in Australien ausgebaut?

Obwohl Australien in der Entwicklung mancher Sachen etwas langsamer als Deutschland ist, ist die Telemedizin sehr fortgeschritten. Sie hat ihre Ursprünge bei den Flying Doctors, die in den 1920er Jahren gegründet wurden (Anm.: Royal Flying Doctor Service of Australia (RFDS)). Aufgrund der großen Distanzen und der Notwendigkeit der Versorgung in entfernten Regionen, hat damals schon die medizinische Versorgung über das Telefon oder über Funk eine sehr große Rolle gespielt. Man war dem ganzen also schon sehr früh aufgeschlossen. Meinem Eindruck nach ist die Telemedizin in Australien heute weiter verbreitet als in Deutschland.

Abb.: Ein Team der Flying Doctors bereitet einen Patienten für die Evakuierung und den Transport vor (Credit: Royal Flying Doctor Service)

Können Sie konkrete Beispiele aus der Telemedizin nennen?

Ja, bspw. gibt es hier Regionen, die vom nächsten Regionalkrankenhaus drei bis vier Stunden mit dem Auto entfernt sind. In diesem Krankenhaus gibt es dann vielleicht nur einen Hausarzt oder einen Krankenpfleger. Schon vor zehn Jahren hatten wir mit solchem Personal Videoschaltungen, um die Patient*innen sehen und das Team, das weniger Erfahrung mit schwerstkritisch Kranken hat, unterstützen zu können. Das ist bspw. in New South Wales seit über zehn Jahren etabliert.
Durch die Corona-Pandemie wurde das ganze weiterentwickelt, es sind neue Projekte entstanden, die bis heute weiterlaufen. So sitzen 24 Stunden am Tag Oberärzt*innen am Telefon, um den Rettungsdienst zu unterstützen, auch mit dem Ziel, Patient*innen nach Hause entlassen zu können. Auch Altenheime werden unterstützt, mit dem Ziel ältere Patient*innen vor Ort lassen und versorgen zu können.
In unserem Krankenhaus gibt es darüber hinaus bspw. auch Ärzt*innen, die verschiedene regionale Krankenhäuser aus der Ferne unterstützen, die Patient*innen haben, die kardiologische Probleme haben könnten. Bspw. können die Ärzt*innen oder das medizinische Personal die EKGs an unsere Fachärzt*innen schicken, damit diese bei der Beurteilung helfen können. Das Ziel all dieser telemedizinischen Maßnahmen ist es, möglichst beurteilen und aussortieren zu können, wer zu uns nach Melbourne gebracht werden muss und wer vor Ort bleiben kann.

Sind Sie selbst auch in der telemedizinischen Beratung tätig?

Ja, ich habe damit auch Berührungspunkte. Wenn ich bspw. heute Nacht in der Notaufnahme bin, bin ich der einzige Oberarzt. Wenn in diesem Zeitraum telemedizinische Anfragen reinkommen, meist kardiologische, dann werde wahrscheinlich ich dieses Telefonat führen oder eine/r der Ärzt*innen in Facharztausbildung. Ich persönlich mache das ganz gerne, da ich finde, dass man so die kleineren Regionen sehr gut unterstützen kann und unnötige Transporte verhindert.
Auch in der Luftrettung bzw. Retrieval Medizin habe ich mit der Telemedizin Berührungspunkte, wenn man ein Krankenhaus anfliegt und schon vorab mit dem Personal dort kommunizieren muss. Da gibt es aber meistens ein eigenständiges Team, das die telemedizinischen Maßnahmen schon im Vorfeld gestartet hat und koordiniert.

Für die Telemedizin besonders relevant: Wie gut ist denn die Netzabdeckung in Australien, v.a. in sehr ländlichen Regionen?

Was hier mit Funktechnik vor 100 Jahren anfing, ist inzwischen sehr gut ausgebaut. Auch wenn ich mich im Hinterland befinde, habe ich in vielen Regionen 4G oder sogar 5G. Bei der guten Datenübertragung ist Australien ganz vorne mit dabei. Sogar häufig besser als in manchen Teilen Münchens.

Sie haben im Bereich der Notfallmedizin viel mit Schwerbrandverletzten zu tun. Was ist im Umgang mit diesen Patient*innen besonders wichtig zu beachten?

Wenn mehr als 20% der Körperoberfläche verbrannt ist, gilt man als schwerbrandverletzt. Es handelt sich bei Schwerbrandverletzten um eine besondere Patientengruppe. Die Versorgung dieser Patient*innen ist hier ein zentralisierter Service. Alle Betroffenen im Bundesstaat Victoria werden bei uns im Alfred Hospital behandelt. Übrigens ist die Versorgung von Schwerbrandverletzten meiner Ansicht anch auch in Deutschland sehr gut entwickelt.
Da es sich um eine recht kleine Patientengruppe handelt, ist es häufig schwierig, Personal mit der nötigen Erfahrung zu bekommen. Auch wenn wir ein sehr großes Zentrum für Schwerbrandverletzte sind, sehen wir nicht mehr als 40 pro Jahr. Diese Patient*innen sind schwer krank und verletzt und haben somit spezifischere Anforderungen als unsere “Standardpatient*innen”. Zum Standard gehören Schwerverletzte wie auch internistische Krankheitsbilder. Die Versorgung folgt einem typischen Schema. Da geht es bspw. um die Sicherung der Atemwege, die Atmung und die Stabilisierung des Kreislaufs. Auch bei Schwerbrandverletzten sind diese Körpersysteme häufig betroffen, sodass hier eine frühzeitige Beurteilung und Stabilisierung erforderlich ist. Zusätzlich treten bei dieser Patientengruppe Probleme auf, die wir sonst bei anderen Patient*innen nicht so ausgeprägt haben. Dazu gehört, dass es sich um sehr schmerzhafte Verletzungen handeln kann. Viele von diesen Patient*innen müssen im Behandlungsverlauf auch intubiert und beatmet werden. Sie haben außerdem ausgeprägte Probleme mit der Temperaturregulierung, da die Hautbarriere großflächig eingeschränkt ist. Das haben wir bei anderen Patient*innen nicht in diesem Ausmaß, auch wenn es bei Schwerverletzten ebenfalls ein Problem sein kann.
Eine weitere Besonderheit ist, dass es sich um ein Verletzungsbild handelt, bei dem wir wissen, dass die Entwicklung häufig progressiv verläuft. Aufgrund der Flüssigkeitsverschiebungen im Körper, die bei Schwerbrandverletzten sehr ausgeprägt sind, kommt es zu Problemen, die nicht in den ersten zwei Stunden, sondern erst nach sechs, 12 oder 24 Stunden auftreten. Das heißt für uns in der Notaufnahme, dass wir diese Patient*innen zunächst stabilisieren und dann engmaschig überwachen müssen. So können wir bei Veränderungen frühzeitig eingreifen und den Patient*innen aus der Notaufnahme heraus einen guten Start auf ihren meistens sehr langen Krankenhausaufenthalten geben. Schwerbrandverletzte haben in der Regel mit die längsten Aufenthalte aller Patientengruppen.

Welche Werte werden üblicherweise bei diesen Patient*innen überwacht?

Ähnlich wie bei allen Patient*innen, die auf der Intensivstation landen. Dazu gehören die Vitalparameter Sauerstoffsättigung, Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz und eben auch Temperatur. Letztere wird ebenfalls engmaschig überwacht. Normalerweise starten wir für die Messungen nicht invasiv, beispielsweise mittels Fingerclip oder Blutdruckmanschette. Später gehen wir über zu invasiven Messungen: bspw. wird Blutdruck invasiv in der Arterie am Handgelenk gemessen oder Temperaturmessungen über eine Blasensonde oder in der Speiseröhre. Wichtig bei all den Messungen der Vitalparameter ist, dass sie engmaschig und kontinuierlich erfolgen. Die großflächigen Verbrennungen bei Schwerbrandverletzten führen allerdings häufig dazu, dass einige Standardmethoden, wie EKG-Patches, Finger-Pulsoximeter oder Blutdruckmanschette, nicht mehr gut funktionieren.

Was zählt alles zur Kategorie „Verbrennungen“?

Verbrennungen entstehen meistens durch Flammen. Verbrühungen zählen auch zu Verbrennungen und sind eher typisch in der Kinderheilkunde. Auch Verätzungen gehören dazu. Chemisch-toxische Verletzungen sind deutlich seltener, werden aber auch im Schwerbrandverletztenzentrum behandelt. Am Ende sind dies alles schwere Hautschädigungen. Doch auch Patient*innen mit anderen dermatologisch schweren Krankheitsbildern, bei denen sich die Haut ablöst, landen bei uns im Alfred Hospital.

Ein weiterer Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist die Retrieval Medizin. Können Sie mehr darüber erzählen?

Die Retrieval Medizin ist in Deutschland am ehesten mit dem „Intensivtransport“ vergleichbar. Es geht hier um die Rettung oder Rückholung von Schwerverletzten oder -erkrankten aus ressourcenarmen Regionen. Ich bin für die Flying Doctors in Dubbo, einem Ort mit ca. 40.000 Menschen, tätig. Dubbo ist ein überregionales Zentrum, in dem alles vorhanden ist. Aber auch dieser Ort liegt vier bis fünf Stunden von der Großstadt Sydney entfernt. Wenn man von diesem kleinen Ort weiter ins Landesinnere fährt, ist alles Outback. Dort ist die medizinische Versorgung schon stark eingeschränkt. Zum einen, was das Personal betrifft. Da gibt es dann zwar Hausärzt*innen oder Pflegepersonal, die viele Kompetenzen haben, aber für die Behandlung von Schwerverletzten kommen diese doch an ihre Grenzen, auch in technischer Hinsicht. Es gibt bspw. keine Labore, man kann häufig keine Blutwerte machen oder nur eingeschränkte “Point of Care”-Messungen. Es ist teils kein Röntgengerät vorhanden, kein CT. Auch keine Blutprodukte, keine Intensivstationen. Solche Orte gibt es in Australien viele. Deshalb hat sich die Retrieval Medizin etabliert, vor allem für die Versorgung der Schwerverletzten. Das läuft dann normalerweise so ab: Im Notfall werden die Flying Doctors frühzeitig alarmiert. Vor Ort findet die Stabilisierung des/der Patient*in mit den Möglichkeiten, die vorhanden sind oder die man mitbringt, statt. Dies zählt zu einer der großen Herausforderungen. Bei so einem Flugzeug der Flying Doctors handelt es sich im Prinzip um eine fliegende Intensivstation. Dort haben wir alle Geräte und Medikamente, die man sich wünscht und aus deutschen Rettungswagen kennt, teilweise sogar noch mehr. Es geht zunächst immer darum, den/die Patient*in zu stabilisieren und in das “High Resource System” (zurück)zufliegen. Entweder in das nächste Kreiskrankenhaus, wenn es ausreicht, oder in eines der großen Zentren, wie Melbourne, Sydney oder Brisbane.

Was sind hier die größten Herausforderungen?

Zum einen ist da die Distanz bzw. die Zeit, die wir bis zum Krankenhaus überbrücken müssen. Zum anderen ist da die Kommunikation. I.d.R. können sich die Ärzt*innen per Video Call zur Rettungszentrale einschalten. Dort sind Ärzt*innen aus der Notfallmedizin zuständig, die uns dann wiederum mit dem empfangenen Krankenhaus in Kontakt bringen können. Das ist dann abhängig von der Indikation. Bei neurochirurgischen Problemen, wie Blutungen im Kopf, ist das System allerdings problematisch, weil wir häufig nicht wissen, wie der genaue Befund ist, weil wir schließlich kein CT vor Ort oder im Flugzeug haben. In diesem Fall geben wir mit dem spezialisierten Team am Telefon bzw. per Video Call einen Überblick sowie die erwartete Ankunftszeit. Wir versuchen bei jedem kritischen Krankentransport nicht zu viel Zeit mit diesen Maßnahmen zu verlieren, sondern immer vorwärtsgerichtet zu handeln, d.h. dem Ziel, das mehrere Stunden entfernt sein kann, schnellstmöglich entgegenzukommen und die Kommunikation aufrechtzuerhalten. So bereiten wir die Übergabe und Behandlung des/der Patient*in im Krankenhaus bestmöglich vor. Jedoch: Distanz und Zeit kann man zwar optimieren, aber wir können aus sechs Stunden keine zwei machen. Wir können allerdings versuchen, die Zeit so gut wie es geht zu nutzen. Was wir uns für Optimierungen hier wünschen würden: Viele Maßnahmen brauchen Zeit, weil wir die Patient*innen engmaschig überwachen müssen. Viele Messgeräte und Sensoren, die an Patient:innen dran sind, sind mit Kabeln verbunden. Für den Transport müssen alle diese Kabel abgesichert werden, es muss alles eingepackt werden. Man möchte schließlich keine wichtigen Leitungen für Infusionen versehentlich herausziehen. Deshalb kostet dieses “Kabelwirrwarr” sehr viel Zeit. Noch ist es ein Traum, aber hoffentlich bald Zukunft, dass wir anstatt vielen Kabeln maximal nur noch ein bis zwei haben und somit die Patient*innen schneller einpacken können und uns weniger Sorgen um die Verkabelung machen müssen.

Mit welchen Transportmitteln werden die Patient*innen transportiert?

Kurze Distanzen werden mit dem Rettungswagen gefahren. Meistens kommen bei der Retrieval Medizin aber Flugzeuge zum Einsatz, weil die Distanzen wesentlich größer sind. Bei mehr als ein bis zwei Stunden Hubschrauberflugzeit wird mit dem Flugzeug geflogen. Hubschrauber fliegen hauptsächlich entlang der Küsten. Im Outback meist nur noch Flugzeuge.

Wie sind Sie auf cosinuss° und die Monitoringtechnologie aufmerksam geworden?

Auf cosinuss° bin ich über einen Kollegen aus München, Dr. Boris Buck, aufmerksam geworden. Er fliegt u.a. als Rettungsarzt bei der Martin Flugrettung und leitet den Hubschrauber “Martin 3” in Scharnstein (Österreich). Dort hat er das cosinuss° System zusammen mit anderen Kolleg*innen getestet und eingesetzt. Die Ärzt*innen dort absolvieren viele Intensivtransporte. Dr. Buck hat hier schon früh die Vorteile des cosinuss° Systems erkannt. Ich bin im Rahmen meiner Deutschlandreise letztes Jahr mit ihm mitgeflogen, habe eine theoretische Einführung bekommen und den Sensor dann auch in der praktischen Anwendung gesehen. Das Ganze habe ich als einen super Einstieg empfunden. Ich bin während meines Deutschlandaufenthalts auch im cosinuss° Büro in München gewesen, um mehr über die Technologie zu erfahren, aber auch um von meinen Erfahrungen als Notfallarzt in Australien zu berichten.

Welche Projekte haben Sie mit den cosinuss° Sensoren geplant?

“Vom Kabelwirrwarr zu kabellos” – Das ist wie bereits erwähnt der Traum von vielen von uns in der Notfallmedizin. Um dieser Vision näher zu kommen, wollte ich das ganze erstmal fokussiert angehen und fange mit den Schwerbrandverletzten als Patientengruppe an. Hier sehe ich einen guten Einstieg mit dem Im-Ohr Sensor, da es sich um eine sehr kleine Gruppe handelt, die häufig unter Hypothermie (Anm.: Unterkühlung) leidet. Mein Plan ist es, den Sensor in die Versorgung dieser Patient*innen zu integrieren. Ich habe bereits den notwendigen Ethikantrag gestellt, um den Im-Ohr Sensor bei Schwerbrandverletzten anwenden und die Vorteile herausarbeiten zu können.
Im Idealfall läuft das Studienprotokoll dann wie folgt ab: Wenn ein Schwerbrandverletzter zu uns ins Alfred Hospital kommt, aufgenommen und verkabelt wird, dann soll er gleichzeitig den cosinuss° Sensor ins Ohr bekommen. So soll parallel zur Ableitung der Standard-Vitalparameter auch eine Aufzeichnung mit dem Im-Ohr Sensor stattfinden. Der Schwerpunkt soll auf der kontinuierlichen, nicht-invasiven Temperaturmessung liegen. Die Messung der Körpertemperatur hängt im klinischen Alltag immer etwas hinter den „aufregenderen“ Vitalparametern, wie Blutdruck, Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung hinterher. Die Körpertemperatur ist meines Erachtens weniger im Fokus. Ich denke aber, dass durch die kontinuierliche Messung an einem sehr zentralen Ort, wie dem Ohr, die Aufmerksamkeit auf die Temperaturmessung mehr ins Zentrum der Behandlung gerückt werden kann.
Das wäre also das Einstiegsprojekt. Ich würde gerne das Projekt danach mit den Patient*innen weiterführen. Ich denke, dass wir die Temperaturerhaltung bei Schwerbrandverletzten verbessern können. Deshalb würde ich gerne eine prospektive Studie durchführen, um die Temperaturerhaltung zu verbessern, indem der cosinuss° Sensor und eine neue Wärmematte eingesetzt werden. Dazu gehört dann auch ein “Education Programme”, sowohl für die Pflegekräfte als auch Ärzt*innen. Es soll sozusagen ein “Bundle” an Maßnahmen werden, um die Temperaturerhaltung zu verbessern.
Es gibt aber noch Nachteile bzw. Herausforderungen: Der Sensor ist sehr klein. In der Notaufnahme haben wir aber viele Betten und Patient*innen. Ein “kontrolliertes Chaos” sozusagen, in dem kleine Dinge abhanden kommen können. Ich muss noch überlegen, wie ich dafür sorge, dass der Sensor nicht verloren geht. Viele Sachen in der Notaufnahme oder im Rettungsdienst verschwinden oder werden weitergegeben. Die beiden Sensoren, die ich hier habe, sind somit wertvolle Güter. Vielleicht könnte man den Sensor zukünftig auch mit einen GPS-Sensor erweitern, um ihn zu orten.

cosinuss° patient monitor at Alfred Hospital in Melbourne Australia

Abb.: Zwei cosinuss° Im-Ohr Sensoren c-med° alpha in der Doppelladebox auf einem Klinikbett im Alfred Hospital (Melbourne, Australia).

Wo innerhalb der Notfall- und Retrievalmedizin sehen Sie das größte Potenzial für den Einsatz der Im-Ohr Sensoren und warum?

Potenziale sehe ich sehr viele. Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung würde ich den Sensor bspw. gerne in der Retrieval Medizin einsetzen. Entweder in New South Wales mit den Flying Doctors oder in Victoria mit ARV (Adult Retrieval Victoria). Wie schon beschrieben, hätten wir mit dem Sensor einen klaren Vorteil bei der Verladung von Patient*innen ins Flugzeug: Weniger Kabel.
Es gibt noch viele weitere Anwendungsmöglichkeiten, die ich sehe: Bspw. für das Monitoring von Patient*innen, die sich Zuhause befinden. Aber auch innerhalb der Notaufnahme oder im Krankenhaus. Hier ist es insbesondere während des Transports der Patient*innen von einem Bereich in den anderen interessant kontinuierlich und kabellos zu überwachen. Natürlich sind das Anwendungsbeispiele, in denen eine größere Masse abgedeckt werden muss, da viele Patient*innen überwacht werden. Da braucht man nicht nur einen oder zwei Sensoren, sondern sehr viele. Hier muss man auch wieder darauf achten, dass sie nicht verschwinden. Und natürlich müsste dann auch die Integration in etablierte Überwachungssysteme gewährleistet sein, damit der Sensor mit der zentralen Überwachung kompatibel ist.

Was sind Ihre persönlichen und beruflichen Pläne: Könnten Sie sich vorstellen, das Know-how und die Erfahrungen, die Sie in Australien gesammelt haben, irgendwann wieder in Deutschland einzusetzen?

Ja, wir haben uns das immer wieder überlegt und hatten so unsere Höhen und Tiefen. Wir sind hier sehr weit weg von unseren Familien. Anfangs machte das noch den Reiz aus. Aber hin und wieder war schon aufgrund der Entfernung die Überlegung vorhanden, zurückzukehren. Deutschland war immer eine Option für mich – vom Leben, von den Menschen, von der Gesellschaft. Die Notfallmedizin hat mich aber bislang nicht gelockt und hat sich bis heute nicht zu dem Grad entwickelt, den ich mir gewünscht hätte. Ich bin aber immer noch sehr gerne in Deutschland, wie bspw. bei meinem erwähnten Besuch letztes Jahr im Rahmen eines Sabbaticals.
Außerdem spielt aktuell der Arbeitsalltag eine sehr große Rolle in meinem Leben. Australien ist, wie ich finde, sehr attraktiv, was das anbelangt. So ist es hier viel normaler als Arzt/Ärztin in mehreren Krankenhäusern zu arbeiten und das mit unterschiedlichem Pensum – von 25% bis 100% ist alles möglich. Das kannte ich so aus Deutschland im Medizinbereich nicht. Es ist hier somit auch viel einfacher eine Auszeit zu nehmen, bspw. für Prüfungen oder Kinder.

Das Wetter in Australien allerdings könnte ich auch gerne gegen das in Bayern eintauschen.

Vielen Dank für das interessante Gespräch!

Author

  • Melanie Schade

    M.A. Kommunikationswissenschaft und Online-Marketing-Expertin mit Schwerpunkt auf Gesundheits- und Wissenschaftskommunikation. // M.A. Communication Studies and online marketing expert with a focus on health and science communication.

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